Man hofft seit immer, dass mal einer des Wegs kommt, den man auf den ersten Blick erkennt. Und dann sagt einer: "Alles hat seine Zeit!" und man fragt sich, könnte er wohl uns meinen, obwohl er uns noch nicht kennt, aber weil er weiß, dass wir passieren werden?
Ich glaub, ich hab es mit den Ohr'n,
Freund Marius hat sein Herz verlor'n.
Guildenstern - 19. Dez, 23:28
Und nachdem ich die Leser eventuell mit dieser Bildschlagzeile gefangen habe, darf ich tatsächlich auspacken. Es gibt unglaublich viele Lehrer, die selbstkritisch behaupten: "Warum beschwere ich mich eigentlich? Es ist so ein schöner Beruf, ich habe so viele Freiheiten, wie ich mir meine Arbeit einteilen kann, was ich machen kann, wie ich es den Schülern beibringen kann." Es gibt unglaublich viele Lehrer, die noch selbstkritischer behaupten: "Wir sind doch eigentlich wie die Schüler - wir lesen Aufgaben nicht genau, wir versäumen Termine, wir jammern ab dem ersten Schultag den Ferien hinterher und zu den nächsten nach vor."
Nachdem wir das mal hätten, und ich widerspreche auch gar nicht, darf die andere Seite Gehör bekommen. Es gibt ganz einfach so vieles an diesem Beruf, das so unglaublich niedere Instinkte weckt, solchen Unmut und Hass hervorruft und solch blankes Entsetzen auslöst, dass selbst die gehobene Standardsprache auf der Strecke bleibt und man nur noch sagen kann: Es ist zum Kotzen. Was macht der gewöhnliche Lehrer jedoch, anstatt ebendies zu tun, vor Schulleitung, Eltern, Politik, Gesellschaft? Er schluckt runter, jammert den Kollegen vor, ist bis zu den Ferien grantig und hat eine Sekunde nach Überschreitung der Ferienhalbzeit bleierne Schwere in den Gliedern, vor allem aber im Gemüt.
Der Lehrer (und natürlich auch die Lehrerin, eine solche welche ich bin) hat das große Vergnügen, an vielen Seilenden zu hängen. Es ist dies tatsächlich ein Vergnügen, wenn es Abwechlsungsreichtum und Einfluss bedeutet. Es ist abwechslungsreich, wenn man mal mit Kindern, mal mit deren Eltern zu tun hat, wenn man die Realität der Unlust aller mit dem Ideal der Lernlust und den Theorien unzähliger Lernforscher ausbalancieren darf. Man ist einflussreich, wenn man die Bilder, die Werte, die Haltungen kleiner und größerer Zöglinge bereichern und prägen darf, auch mal Erfahrung weitergeben darf, die nicht im Buch steht, die Interaktion lebendig macht. Wer spricht nicht heute noch von diesem oder jenem, das man sich von jenem oder einem anderen Lehrer gemerkt hat?
Helle Seiten verschwinden schnell - man sagt nicht umsonst, es braucht fünf Mal Lob für einmal Tadel -, wenn an allen Enden gezogen wird, die Sehnen und Gelenke eines Lehr(er)körpers zu reißen drohen und dann noch die Schuldkeule des Untergangs der Zivilisation, wie wir sie kennen, gleich einem deus ex machina in reverse, von oben auf die Köpfe zugerast kommt.
Wer wie ich so gebaut ist, dass der Leidensdruck unglaublich groß werden kann, bevor man handelt, weil man eher den schiefen Blick anderer als das eigene Unglück fürchtet, braucht unter Umständen mehrere Jahre, um sich nicht nur insgeheim einzugestehen, dass es der falsche Beruf ist, weil man nicht Don Quixote ist.
In Ländern, in denen die Anwärter Schlange stehen, um endlich in den Schuldienst zu dürfen, haben Gehende wenig Chancen auf Gehör, ihr Echo verhallt im All. Wenn es so ist wie hier, wo man händeringend nach Fähigen und Willigen sucht, verstehe ich nicht, dass man nicht mit geballter Kraft dem System einen Stups gibt, indem man sagt: NICHT MIT MIR. SO NICHT MIT MIR. Wir können weiterreden, wenn etwas geändert wird.
Was könnte man denn nun ändern?
* Die Verantwortung muss jenen gegeben werden, die sie tatsächlich haben. Dazu gehört, dass die Verantwortung für ein gutes Lern- und Arbeitsklima nicht eine Sache von Schulverhaltensregeln ("Wir respektieren uns gegenseitig und grüßen uns auf den Gängen," et f*ing cetera.), sondern eine gesellschaftliche ist. Wer in der Familie lernt, dass "lesen sowieso nur blöd ist, lernen überhaupt, ich will sowieso nur abhängen und nicht denken", der glaubt das auch. Wer in Radio, Fernsehen, Zeitungen, von Plakatwänden und über "Mundpropaganda" hört: "Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut," dem wird systematisch die Wertschätzung nicht unmittelbar geldwertrelevanter Inhalte und Beschäftigungen ausgetrieben.
Die Verantwortung für Verhaltenserziehung liegt bei den Eltern, jene für soziale Erziehung, für Arbeiten und Lernen in der Gruppe natürlich bei den Lehrern. Die Verantwortung fürs Begreifen liegt bei den Lehren. Äh, Fauxpas cardinal: Irrtümlich den vorherrschenden Duktus übernommen. Die Verantwortung fürs Begreifen liegt natürlich bei den Schülern. Gottgleiche Hirnchirurgen sind wir nicht. Wissens-Mc-Drive-Arbeiter sind wir auch nicht.
* Anstrengung muss belohnt werden. Wenn die Gesellschaft mault, weil Lehrer Ferien haben, wenn die Gesellschaft den Lehrern erwidert, diese hätten nichts zu jammern, weil sie ein Viertel des Jahres frei hätten, dann muss ich psychologisch-mathematisch korrigieren: Lehrer laufen sich physiologisch-mental-energietechnisch zugrunde, leben haarscharf über dem Niveau, unter dem man einklappen und sich eingraben lassen könnte und brauchen die Ferien, um sich zu erholen. Bei einer Woche braucht man erst gar nicht anzufangen. Nach dem ersten Abend, dem ersten Ausschlafen ist die Freude über "unterrichtsfrei" schon wieder dem Blick nach vor gewichen. Wenn die Erholung jenen Punkt erreicht hat, an dem man von "poah, ich fühle mich wieder wie ein Mensch" sprechen kann, schaltet man die Kaffeemaschine für den Montagskaffee an und spült den Grant hinunter. De facto hat ein Lehrer also zwei Wochen Urlaub im Jahr, weil er seine Zellen drei Wochen lang aufpäppeln muss, dann wieder Freude und Privatleben haben kann, dann den Blick wieder nach vor richtet. Zwei Wochen, und dann hat man ja auch nur zwei halbe Tage in der Woche frei. Samstag Mittag beginnt die Schwerkraft von Montag Morgen schon zu wirken.
Wenn man also den Lehrern etwas neidet (der Kreis zu Punkt eins schließt sich), kann man ja etwas tun: Man passt die Arbeitszeit jener aller nine-to-five-Arbeiter an. Da sehe ich leider massig Probleme des Wegs rollen. Wer findet die hunderttausend Lehrer, die dann benötigt werden, um die jetzigen Stunden, die dann der Arbeitszeitregulierung zum Opfer fallen, zu halten? Und wer bringt der Tourismusindustrie und dem Gott Wirtschaft bei, dass die Eltern nicht auf Urlaub fahren können, weil leider zwischen Weihnachten und Silvester Schulaufgabe ist, der Gründonnerstag mit dem Theaterworkshop belegt und die nachwachsenden Berufstätigen leider alle psychisch gestört sind, weil sie nicht Kinder sein und Ferien haben dürfen, sondern 47 Wochen im Jahr in der Schule sind?
Wenn nun jedoch dieses System der Burnout-ist-mein-Abendbrot-Berufsgruppe beibehalten wird, muss es um vieles besser honoriert werden, was Lehrer leisten. Manches kann mit Geld kompensiert werden. Geld auf dem Gehaltsscheck, Geld, das in kleine Klassen, gute Ausstattung, weiß man alles, investiert.
Achtung, diese Nachricht vernichtet sich in fünf Sekunden selbst.
Guildenstern - 19. Dez, 16:26